Autorenname: Melisande Rodenacker

Utopien und Träume mit Monte Azul International

„Ich fände toll, wenn es ein kreativer Prozess wird, wo wir ins Gestalten kommen.“

„Ja – es wäre schön, wenn die kreativen Kräfte angeregt werden und die Menschen sich trauen, etwas in Bewegung zu bringen“

„Wir sollten unbedingt die Kinder einbinden.“

„Mir wäre wichtig, dass es ein Rahmen ist, wo jeder seinen Impulsen folgen kann.“

„Was haltet ihr davon, wenn wir das wie einen Spiele-Parcours machen? Vielleicht sogar öffentlich?“

„Ja, das passt gut. Auch zu Monte Azul. Wir haben oft gehandelt, ohne vorher genau zu wissen, was daraus wird. Es wäre so schön, wenn die Menschen erleben, dass es sich lohnt etwas zu tun, egal wie klein.“

Diese Zitate notierte ich in den ersten Gesprächen zur Vorbereitung der Kulturtage 2024 des Monte Azul International Vereins. Die jährlichen Treffen bringen Menschen aus Deutschland, Brasilien und anderen Ländern zusammen, die im Laufe ihres Lebens eine Zeitlang in Sao Paolo gelebt und, überwiegend als Freiwillige, in der Sozialorganisation Monte Azul mitgearbeitet haben. Das Kulturprogramm war dem Thema ‚Utopien und Träume‘ gewidmet und die Organisatoren luden mich ein mitzumachen. Gemeinsam entwickelten wir das Programm. Die Wünsche waren mutig: Die Teilnehmenden sollten die Möglichkeit bekommen Kraft zu schöpfen für Menschlichkeit und für die Verbindung mit der Natur, ihre Kreativität sollte angeregt und ihr Kontakt zu den eigenen Impulsen gestärkt werden. Die Motivation zu handeln und Verantwortung zu übernehmen sollten intensiviert werden.

Aus den ersten Ideen entwickelten wir nach und nach den Rahmen für einen kreativen, lebendigen, bunten und berührenden Tag. Der Wunsch die Kinder einzubinden und jede Aktivität so zu gestalten, dass sie für Kinder und Erwachsene gleichermaßen einladend ist, verhinderte, dass wir das Thema Utopien zu abstrakt, theoretisch und kopflastig aufgriffen. Auch die Zweisprachigkeit (deutsch und brasilianisch) unterstützte uns dabei, Vorgaben auf das Wesentliche zu beschränken und uns auf Aktivitäten zu konzentrieren.

Eine Phantasiereise zur Einstimmung

Am Abend der Anreise wurde eine Vorstellungsrunde mit einer Phantasiereise abgeschlossen, die es den Teilnehmenden ermöglichte, in sich zu gehen, anzukommen und in der eigenen Vergangenheit nach einer Erfahrung zu forschen, die für sie bedeutsam für eine wünschenswerte Zukunft ist. Damit wurde das Thema der Utopien und Träume bereits am Anfang des Wochenendes auf eine besinnliche und offene Weise eingeführt. Es wurde eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Jetzt und Zukunft geschaffen.

Am Samstag fand die Mitgliederversammlung statt und Renate Keller Ignacio berichtete über die aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen in Monte Azul. Dadurch konnten wir den Sonntag frei gestalten.

Utopische Geschichten erzählen

Am Sonntag nach dem Frühstück luden wir die Teilnehmenden ein, still zwischen vielen im Saal ausgelegten Postkarten zu spazieren und diese zu betrachten. Nach einigen Minuten wurden sie eingeladen sich eine Karte auszusuchen. Anschließend tauschten sie sich in kleinen Gruppen darüber aus, warum sie eine bestimmte Karte ausgesucht hatten. Es war ein schönes Bild, wie die großen und kleinen Menschen mit sich und den Karten in stillem Austausch standen und dann ins Gespräch kamen.

Um das Thema Utopie kreativ im Rahmen einer kurzen gemeinsamen Aktivität aufzugreifen, beschlossen wir utopisch-fantastische Geschichten zu skizzieren. Es wurden drei Gruppen gebildet, die den Auftrag bekamen in 2-3 Sätzen beginnend mit „Stell dir vor…“ den Anfang utopischer Geschichten zu erzählen. Diese sollten so spannend und lebendig sein, dass die Zuhörer Lust bekommen, den Rest der Geschichte auch zu hören. Die Kinder waren in die Gruppen gemischt und die Erwachsenen hatten den Auftrag, den Ideen der Kinder etwas mehr Gewicht zu geben, als ihren eigenen. Dies half, dass die Geschichten lebendig wurden sowie politische Debatten und perfektionistische Analysen nicht Überhand nahmen. In einer zweiten Runde rotierte jede Gruppe zu dem Geschichtsanfang einer anderen Gruppe und sollte diese mit 2-3 Sätzen fortsetzen. Und in einer dritten Runde bestand der Auftrag darin, die Geschichtsanfänge mit einem Bild oder einem Titel zu ergänzen. Zum Abschluss wurden die Geschichtsanfänge vorgelesen und gezeigt.

Wie die Geschichten wohl weiter gehen? Was haben die Elefanten Lili und Markus auf der Kreuzung vor, wo die Natur vertikal und horizontal Vorfahrt hat? Wie lebt es sich in der Welt, wo alle stricken und häkeln und Fußball spielen – und wenn sie keine Lust mehr haben, eine Schnitzeljagd machen?

Anschließend war noch Zeit für die Vorbereitung des Nachmittags. Zu Mittag gab es gemeinschaftlich gekochte brasilianische Feijoada – ein Festessen.

Insel der Utopien, Land der Träume – ein Parcours für Groß und Klein

Die Idee eines Parcours hatte sich gehalten – in der Form, dass es Stationen geben sollte, wo unterschiedliche Aktivitäten ermöglicht werden und die Menschen sich frei bewegen können, um an dem teilzunehmen, was ihnen gefällt. Eigentlich wollten wir in der Planung des Tages keine Stationen ausarbeiten, sondern den Rahmen so moderieren, dass die Beteiligten selbst bestimmen, welche Stationen (also Spiele, Themen, Aktivitäten) es geben würde. Trotzdem sprudelten die Ideen schon in der Vorbereitungsphase: Gemeinschaftsbilder, Zirkus, Stadtverschönerung, Traumzimmer, Verkleidung, Theaterimprovisation, Gruppenspiele, Kletterparcours, Anlegen einer Blumenwiese, Utopie-Erzählungen, Musik, Landart… Alle hatten Ideen und offensichtlich auch selbst große Lust auf die vielen künstlerischen und gemeinschaftlichen Aktivitäten. Es hatte den großen Vorteil, dass wir gemeinsam nach und nach ein konkretes Bild des Parcours entwickelten und daraufhin unsere Pläne an die real gegebenen Möglichkeiten anpassen konnten („Oh… nur 5 Stationen?!“) und schließlich am Sonntag die Vorbereitung mit den Teilnehmenden innerhalb von 2 Stunden tatsächlich gelang.

Bewährt hat sich die Mischung aus vorbereiteten Ideen und Materialien (Stadt der Träume, Gemeinschaftsbild, Blumenwiese) und der Offenheit für zusätzliche Ideen (Poesie-Ecke, Pferde-Hindernislauf, Energie durch Tanz und Musik, Zirkus). Jede Vorbereitungsgruppe bekam den Auftrag sich ein Symbol auszudenken, welches als ein Stempel geschnitzt wurde. Die Teilnehmenden konnten sich ihre Postkarte umhängen und an jeder Station an der sie mitgemacht hatten einen Erinnerungsstempel auf die Rückseite der Karte geben lassen. Dies half die Stationen zu definieren und den Ablauf zu konkretisieren.

Die Reise begann mit Tanz im großen Kreis zu brasilianischer Trommel und Gesang von Ana und Andreza. Etliche Besucher kamen noch dazu und knapp vor einem mächtigen Regenguss zogen alle in das Gebäude wo die Insel der Utopien mit den verschiedenen Aktivitäten vorbereitet war. Nach einigen Minuten der Orientierung begann ein emsiges und geschäftiges Treiben an den verschiedenen Stationen.

Ich wurde nun in der Rolle der Moderatorin nicht mehr gebraucht und konnte mit den anderen eintauchen. Ein Mädchen zeigte mir ihren Pferdehindernisparcours, den wir mit Steckenpferden erprobten. Ich bemalte ein Papp-Gebäude mit Dachgarten für die Stadt der Träume. Die Energiegewinnung durch Tanz und Gesang ließ ich mir nicht entgehen – es waren dynamische und energiegeladene Wechselgesänge mit Trommelbegleitung. Nur die brasilianischen Texte wollten nicht so schnell gelernt sein – aber mit lalala ging es auch. Abschließend setzte ich mich zur Poesie-Ecke und fand dort berührende, vielsprachige Gedichte und Zitate. Kinder hatten zum Klang japanischer Haikus Bilder gemalt. Fernando Birris Antwort auf die Frage Wozu dient die Utopie?“ wurde in viele verschiedene Sprachen übersetzt und gegenseitig vorgelesen. Sie dient dazu, dass ich nicht aufhöre weiter zu gehen“. Es entstanden mehrere Haikus zu Themen des Tages. Die Stimmung war kreativ, vertieft, interessiert, berührend.

Als irgendwann das Stimmengewirr abflaute und die Kinder zu anderen Spielen auf dem Schulgelände weiterzogen, war es Zeit für den Abschluss. Ein paar Kinder säten eine Blumenmischung in das neu angelegte Blumenbeet – wegen des Regens kleiner als erhofft, aber dadurch nicht weniger schön. Und schließlich gab es einen musikalischen Abschluss mit den Musikerinnen, an dem wiederum fast alle teilnahmen und gemeinsam den Saal mit Wechselgesängen und Tänzen zum Klingen brachten. Die Runde fand einen ruhigen Abschluss in einem improvisierten Segen für die Kinder.

Offene Bühne am Abend

Nach dem Abendessen lud Theresa zum Sarau ein – einer offenen Bühne, auf der jeder der wollte etwas teilen und präsentieren konnte. Und spontan entstand ein fast zweistündiges Programm an Liedern, Musik, Rap, sogar zwei TikTok Videos und einigem mehr. Nach diesem Programm gingen wir müde und sehr erfüllt von schönen Eindrücken und Erlebnissen auseinander.

Rückblick

Das Erlebnis mit den Kindern gemeinsam etwas zu tun und sie immer wieder im Zentrum zu erleben (z.B. beim Tanzen) hatte viele berührt. Eine Teilnehmerin sagte, sie sei selbst wie in eine andere Dimension getreten, wie früher als Kind beim Spielen. Eine andere sprach von Seelennahrung, sie fühle sich inspiriert, erfüllt und voll Energie. Während und rund um die Aktivitäten gab es Raum für Begegnungen und das Gefühl von Gemeinschaft war deutlich wahrzunehmen. Es wurde gestaunt, dass das doch recht theoretische Konzept der Utopie in einer so lebendigen Form thematisiert wurde. Offenbar war es den Meisten ein tiefes und im Alltag oft vernachlässigtes Bedürfnis, in spielerisches, künstlerisches und gemeinsames Tun einzutauchen. Es war wie ein Durst, der gestillt wurde.

Vielen Dank an Steffen, Theresa, Mirjam, Marcos und dem ganzen Monte Azul International e.V. für diese schöne Zusammenarbeit und Erfahrung.

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Insects for Utopias!

Wenn es Leben im All gäbe, würden wir es erkennen?

Und wenn wir es sähen, würden wir uns dann nicht fürchten?

Und wenn es kommunizieren würde, würden wir es merken?

Vermutlich nicht. Wir haben so viele Lebensformen auf der Erde und verstehen fast nichts von ihnen und ihrer Kommunikation.

Wenn wir uns anschauen, was wir dank Forschung und technischer Entwicklung inzwischen alles verstehen, nachweisen und bewirken können, was noch vor Jahrzehnten undenkbar war – wie können wir uns dann heute so fühlen, als wäre ein krönender Stand der Erkenntnis erreicht, als gäbe es kaum weiße Flecken des Unbekannten mehr auf unserer Landkarte des Wissens? Wo ist unser Bewusstsein für die unvorstellbare Fülle an Dingen, die wir nicht wissen, noch nicht wissen, nicht mehr wissen und die auch google und die KI nicht weiß? Oder die unzähligen Dinge, die wir uns noch ausdenken werden?

Die Einleitung meines Insektenführers zeigt deutlich, wie unvorstellbar riesig sowohl das bereits vorhandene Wissen, als auch die unermessliche Weite des Unerforschten ist. „Bislang sind weltweit rund eine Million Arten beschreiben. Auch heute noch kommen Tag für Tag zahlreiche neu beschriebene Vertreter hinzu. Die tatsächliche Artenzahl dürfte daher beträchtlich höher liegen – die Schätzungen hierfür bewegen sich zwischen 2 und 20 Millionen.“ Fast jede Seite beginnt mit dem Hinweis, dass es von dieser Art Insekten eigentlich Hunderte weitere gibt, die nicht abgebildet sind.

Das sind Zahlen, deren Bedeutung mir ansatzweise greifbarer wird, wenn ich einzelne Insekten bestaune: das filigrane Feenlämpchen der Feenlämpchenspinne; die kaum sichtbare, aber angriffslustige Larve der Staubwanze – perfekt getarnt mit Staub, der auf ihr klebt; die Langhornmotte mit goldbronzenen Flügeln und Fühlern, die mehr als 4x so lang sind, wie sie selbst oder der trunkene Mittsommer-Liebestaumel einer Schar Hirschkäfer, die sich um die vom Weibchen aufgebissene Saftquelle an einer Weide tummeln. Wie viele phaszinierende Beobachtungen sind bei Millionen unbekannter Insektenarten noch möglich?

Meine liebe Oma hätte nun vermutlich gesagt „Bleib mir mit diesem Dreckdings weg.“ Insekten waren für sie wohl überwiegend Schädlinge – Honigbienen gerade so tolerierbar. Ich hätte sie mit Vorträgen über Insekten (oder gar Utopien) kaum erreicht. Ich vermute, dass sie sich bei diesen Themen unwohl gefühlt und mich abgewimmelt hätte. Und wer von uns kennt das nicht? Auch ich will manches nicht wissen, manches überfordert mich, beängstigt mich oder langweilt mich. Manches nicht zu wissen und auch gar nicht erst wissen zu wollen, ist alltäglich und auch nötig in Zeiten des Informationsüberflusses.

Und doch, wir stehen als Gesellschaft vor Herausforderungen, denen wir mit Vorstellungsfähigkeit, Kreativität, Solidarität und Handlungskraft begegnen müssen. Ich befürchte, dass wir sehr starr und unbeweglich bleiben, wenn wir Unbekanntes vorschnell ignorieren oder abwimmeln. Wir brauchen einen interessierten, staunenden Blick, der nicht sofort zu wissen meint oder meint wissen zu müssen; ein ehrfürchtiges Bewusstsein für all das (Noch-)Nicht-Wissen und Noch-Nicht-Erdachte.

Für mich ist die Offenheit für utopische Entwürfe vergleichbar mit der Offenheit für unbekannte Insekten. Ohne Achtsamkeit bemerken wir dieses Utopische womöglich gar nicht und ohne Offenheit wehren wir es vorschnell ab – gruselig, fremd, überfordernd.

Wir könnten doch mal anfangen, den Umgang mit Unwohlsein und Angst gegenüber Unbekanntem, Ungewissen und Nichtwissen zu üben – beispielsweise indem wir die vielen Lebensformen, die uns tagtäglich umgeben, beobachten, erforschen und achtsam behandeln: Insekten, Mollusken, Bakterien, Reptilien, Säugetieren, Pilze, Algen…

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Stell dir vor…. Unternehmen wären demokratisch

Die Macht einer Idee liegt darin, dass sie verändert, was wir uns vorstellen. (…) Man kann nichts ausprobieren, was man sich nicht zuerst vorgestellt hat. (…) Wir müssen also unsere Vorstellungsfähigkeit ausleben, sie erweitern und trainieren, um neue Ideen zu bekommen, mit denen wir experimentieren können…das Feld der Möglichkeiten erweitern.

In unserer aktuellen Welt gibt es kaum demokratische Unternehmen. Es gibt einige Kooperativen, Genossenschaften oder selbstverwaltete freie Schulen, die demokratische Strukturen entwickelt haben. Doch das große Bild ist ein anderes. Insbesondere wenn wir an internationale Konzerne denken, scheint es kaum vorstellbar, dass sich diese demokratisch organisieren könnten.

Und genau hier setzt das ‚Team Endicott’ an – wie sich die Wissenschaftler im Comic Hé Patron! Für eine Revolution im Unternehmennennen, der bisher leider nur auf Französisch verkauft wird.

Drei Wissenschaftlerinnen haben 2020 ein Manifest initiiert, welches anschließend von 3000 WissenschaftlerInnen aus 36 Ländern unterzeichnet wurde: Arbeit soll demokratisiert, dekommodifiziert und nachhaltig gestaltet werden.

In dem Comic kann man nun die Debatten und Überlegungen einer Gruppe Soziologen, Politologen, Juristen, einem Historiker und sogar einer Wirtschaftswissenschaftlerin nachlesen – schön albern gezeichnet und inhaltlich reichhaltig. Da es kein reales Forschungsobjekt im gewünschten Format gibt, erschaffen sie es. Zuerst lassen sie das Unternehmen ‚Soup Group‘, das sich ethisch und ökologisch höchste Prinzipien auf die Fahnen geschrieben hat, erfolgreich wachsen – doch irgendwann wird es schwierig. Die Werte verkommen zu Worthülsen und der Konzern steckt tief in der Krise. Und dann erzählen die Wissenschaftler, wie die Umstellung zu einem erfolgreichen, demokratischen Konzern aussehen könnte.

Utopien fangen an mit der Kritik am Status Quo. Die Wissenschaftler beginnen hier, erforschen und diskutieren die Probleme und warum es so wichtig für unsere Gesellschaft ist, dass die Demokratisierung von Unternehmen voran gebracht wird. Und glücklicherweise gehen sie auch den nächsten Schritt und skizzieren Ideen, wie ein demokratisierter Konzern aussehen und wie es dazu kommen könnte. Dadurch erreichen sie, dass die Idee eines demokratisch organisierten Konzerns dann doch nicht ganz so unmöglich („utopisch“) erscheint, wie man zunächst annehmen könnte.

Die Wissenschaftlerinnen bieten keinen Fahrplan zum Nachmachen an, sondern erzählen den Beginn einer Reise. Damit machen sie Mut und inspirieren, in der Hoffnung, dass sich viele Menschen in ihren Unternehmen gemeinsam auf Reisen machen, ganz unterschiedlich und ziemlich sicher beschwerlich, aber eben in Richtung eines demokratischeren, solidarischeren und nachhaltigeren Wirtschaftens.

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„Stop! …Ich würde das anders machen.“ Das Theater der Unterdrückten von Augusto Boal

Erkennen und Verändern – das ist unser Ziel. Um etwas zu verändern, müssen wir es erst erkennen, und der Akt des Erkennens ist in sich selbst bereits eine Veränderung – eine erste Veränderung, die uns die Möglichkeit gibt, auch andere Veränderungen zu versuchen. Wir proben einen Akt der Befreiung, um ihn dann ins reale Leben zu extrapolieren: Das Theater der Unterdrückten ist in allen seinen Formen ein Ort, an dem Veränderungen geprobt werden – und diese Probe an sich ist bereits eine Veränderung.“

Boal, 2021, S.306

Diesen Sommer bin ich auf einen Menschen und sein Werk aufmerksam gemacht geworden, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Augusto Boal und das Theater der Unterdrückten. Ich war bei einer Theateraufführung eingeladen, die sich als eine Mischung aus Theater, Erzählung und interaktivem Workshop entpuppte. Dem Schauspieler, Regisseur und Theaterpädagogen Marcelo Miguel (http://theater-instrumental.de/) gelang es, in einem furiosen Durcheinander an Sprachen, Geschichten, Spielen und Übungen das Leben und Werk von Augusto Boal vorzustellen. Ich sah sehr viele Anknüpfungspunkte für partizipative Zukünftegestaltung. Nicht nur, dass Theater eine spannende Form ist, um partizipativ Bilder gewünschter Zukünfte zu entwickeln. Das von Boal entwickelte Forumtheater beginnt mit einer Szene der Unterdrückung, welche den Zuschauern (er sagt Zuschauspielern) aus eigener Erfahrung als Unterdrückte vertraut ist. Anschließend wird dieselbe Szene immer wieder verändert – durch Zuruf oder Rollentausch der Zuschauspieler– bis möglichst viele Wege entwickelt wurden, wie die Unterdrückung aufgelöst und verhindert werden könnte. Es werden Handlungsmodelle für die Zukunft entwickelt. Boals jahrzehntelange Arbeit, in der er größten Wert darauf legte, keine Lösungen von oben herab zu präsentieren, sondern die Betroffenen selbst dazu zu befähigen, ihre eigenen Möglichkeiten auszuloten, auszutesten und zu reflektieren, ist ein Schatz an Erfahrungen.

Allgemeine abstrakte Themen werden auf konkrete Szenen herunter gebrochen. Der gesamte Prozess bleibt immer ein Dialog, alle lehren und lernen. Die konkrete Arbeit in Handlungen und Bildern verhindert das Abschweifen in endlose Grundsatzdiskussionen. Boal hat eine große Fülle an Methoden entwickelt, die auch abseits des Theaters genutzt werden können. Er hat reichlich Erfahrungen gesammelt, wie solche Gruppenprozesse anmoderiert werden sollten, damit ein gemeinschaftlicher kreativer Prozess in die Gänge kommt. Ich sehe in seinem Werk einen Fundus an Erfahrungen und Methoden, welche die Gestaltung partizipativer Prozesse bereichern und verbessern können.

Wichtig ist dabei nicht, die eine gute Lösung zu finden, sondern eine größtmögliche Zahl an Alternativen zu entdecken.“ Boal, 2021, S.320

Diese Bilder besitzen zwei wesentliche Eigenschaften: Sie sind Bilder von etwas Realem, und sie sind gleichzeitig in sich selbst real. Sobald die Bilder gestellt worden sind, existieren sie.“ Boal, 2021, S. 367

Theater der Unterdrückten bewegt sich an der Grenze von Realität und Fiktion – diese Grenze muss überschritten werden. Die Aufführung beginnt in der Fiktion, ihr Ziel ist jedoch, in die Realität, ins Leben integriert zu werden. (…) Lasst uns demokratisch sein und unser Publikum bitten, uns von seinen Wünschen zu erzählen und uns Alternativen zu zeigen. Lasst uns hoffen, dass wir eines nicht zu fernen Tages in der Lage sind, unsere Regierungen und Regierenden zu überzeugen oder zu zwingen, dasselbe zu tun: nämlich ihr Publikum – also uns!- zu fragen, was sie tun sollen, um diese Welt in einen Ort zu verwandeln, an dem wir leben und glücklich sein können – ja, das ist möglich! (…)“ Boal, 2021, S.388

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„Stell dir vor… Mit Mut und Fantasie die Welt verändern“ von Rob Hopkins

„Bei jedem Schritt verliebte ich mich mehr in diese beiden kleinen Wörter ‚Was, wenn…?'“

Rob Hopkins, S. 25

Was, wenn sich alles zum Guten wendet? Mit dieser Frage beginnt Rob Hopkins sein Buch „Stell dir vor…Mit Mut und Fantasie die Welt verändern“ – und liefert ab der ersten Seite ermutigende Inspirationen. Als fantasievoller und unternehmungslustiger Umweltaktivist, Dozent und Autor hat er sehr viel zu berichten, beispielsweise aus der Transitions-Towns-Bewegung, die er mitbegründet hat.

Hopkins stellt sich gegen die Macht dystopischer Szenarien und fatalistischer ‚zu spät‘ oder ‚nicht mehr zu schaffen‘-Botschaften. Dies gelingt ihm, ohne sich naiver ‚es wird schon alles gut, wir müssen nur dran glauben‘-Schlagworte zu bedienen. Er belegt seine Überzeugung, dass sich alles zum Guten wenden kann, mit zahlreichen Beispielen, wo dies bereits begonnen hat und Empfehlungen, wie wir solche Entwicklungen vermehren und beschleunigen können.

Die „was-wenn“-Fragen sind hierbei sein Schlüssel, um mit dem Schmieden mutiger und fantasievoller Ideen zu beginnen. Die Kraft der Fantasie, und wie dies gefördert und entwickelt werden kann, ist der Schwerpunkt in diesem Buch. Um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen, glaubt Hopkins, ist die Fantasie die einzige Sache, die wir noch haben, die radikal genug ist – oder sein könnte -, unter der Voraussetzung allerdings, dass sie von couragiertem Handeln begleitet ist.“ (Hopkins, S. 24)

Ich kann das Buch nur allen empfehlen, die einen positiven und ermutigenden Blick nach vorne brauchen, die Lust haben auf gemeinschaftliches Weltverbessern und die sich nach fantasievoller Kreativität sehnen. Die Menge an Erfahrungsberichten und der durchgehende Fokus auf die Kraft der Fantasie sind spannend, mitreißend und belebend.

Vielleicht ist es an der Zeit zu erkennen, dass im Zentrum unserer Arbeit das Bedürfnis unserer Mitmenschen steht, sich eine bessere Welt vorstellen, Geschichten darüber erzählen und ihre Verwirklichung herbeisehnen zu können. Wenn wir uns eine bessere Welt vorstellen, herbeiwünschen und erträumen können, ist es viel wahrscheinlicher, dass wir unsere Energie und Entschlossenheit daransetzen, sie auch Wirklichkeit werden zu lassen.“ (Hopkins, S. 17)

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Psychologie der Utopie

Wie könnte eine Psychologie der Utopie aussehen? Ich bin keine Psychologin – also habe ich einen Freund gefragt, der Psychologe ist. Eine komische Frage, fand er. Und er überlegte, aber es fiel ihm nichts ein.

Er spielte mit meiner Frage: „Welche psychischen Bedürfnissen werden durch das Entwickeln einer Utopie erfüllt?“

Ihm kam keine Erleuchtung und er fragte weiter: „Was könnte die Utopie der Psychologie sein?“ Er fand, er könne sich keine Psychologen in einer utopischen Welt vorstellen. Und er ging an dem Tag gegen Macron demonstrieren.

Ich finde diese Fragen sind vielversprechende Erweiterungen meiner Ausgangsfrage. Daher lasse ich sie mal so offen stehen.

Ich selbst hatte mir überlegt, welche Gefühle mit Utopien einhergehen – ein spontanes Brainstorming, das ich für mich „Psychologie der Utopie“ genannt habe. Hier ist meine erste unsortierte Sammlung:

  • Hoffnung, wenn man durch eine Utopie eine Vorstellung bekommt, wie etwas besser werden könnte. (Ist Hoffnung ein Gefühl?)
  • Wut oder Angst, wenn man sich bewusst wird, wie weit die Realität von der Utopie entfernt ist, wie weit und schwer der Weg zu einer besseren Gesellschaft wird und wie stark die Beharrungskräfte sind.
  • Freude, über eine gute utopische Geschichten oder Bilder. Oder Freude darüber, dass man Ideen und Orientierung findet, wohin sich die Gesellschaft positiv entwickeln könnte.
  • Enttäuschung, wenn einem klar wird, das vieles von den Utopien nicht sein wird.
  • Schuldgefühle oder Scham? Vielleicht, wenn man sich seiner beharrenden Rolle in der gegenwärtigen Gesellschaft bewusst wird?
  • Sich handlungsfähig fühlen, weil man eine Vorstellung bekommt, wohin man gehen könnte, was man unternehmen könnte.
  • Oder sich ohnmächtig fühlen, wenn man sich bewusst wird, wie unmöglich der Weg zur Utopie ist.
  • Gegenwärtiges in Frage zu stellen und zig Alternativen dazu zu durchdenken, kann auch die Unsicherheit verstärken. Gegebenes nicht mehr als unabänderlich zu sehen bringt Freiheiten – aber kann auch verunsichern.
  • Klarheit, Sicherheit oder Zugehörigkeitsgefühl – wenn man sich seiner eigenen Wünsche, Werte und Bedürfnisse bewusst wird und Mitstreiter findet, die eine Utopie teilen.
  • Einsamkeit – wenn man merkt, dass man mit manchen Wünschen und Werten oder gewagten Utopien alleine da steht.
  • Traurigkeit – wenn einem bewusst wird, was alles nicht war, nicht ist und vielleicht nie sein wird, was einem wichtig gewesen wäre.

Welche Gefühle fallen euch noch ein, die durch Utopien und utopisches Denken ausgelöst werden können?

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Utopie und Enttäuschung

Vor ein paar Jahren habe ich einen Workshop mit NachbarInnen geleitet, in dem auch eine utopische Version unserer Straße entwickelt wurde. Aus der schmalen, mit Autos zugeparkten und durch zügigen Autoverkehr gefährlich und lauten Straße, wurde eine verkehrsberuhigte, fast autofreie Straße, mit grünen Parkecken, Sitzinseln für Senioren, Spielecken für Kinder, Mülleimern für Hundebesitzer, Radwegen, Tempo 30, kaum Parkplätzen, Autoverkehr nur in eine Richtung. Eigentlich wohl eher eine zeitgemäße Planungsvision als eine gewagte Utopie. Es führte dennoch dazu, dass ich dieses Bild vor mir sehe, wenn ich mit dem Fahrrad verbotenerweise den Gehweg nutze, um nicht zwischen die Autos zu geraten oder lange warten muss, um heil über die Straße zu kommen. Es frustriert mich und macht mich wütend, dass sich hier nichts in Richtung einer Verkehrsberuhigung getan hat – in Zeiten, wo diese Veränderungen sogar dem politischen Auftrag entsprechen und bei weitem keine gewagten Ideen sind. Es bringt nur wenig Genugtuung, dass sich die zeitgleich skizzierte Autofahrer-Utopie (bzw. Anwohner-Dystopie) auch nicht realisiert hat: eine auf Betonstelzen erhöhte 4-spurige Schnellstraße als Verlängerung des Steglitzer-Autobahn aus den 60er Jahren, damit die vielen Pendler aus den boomenden Vorstädten schnell zur Arbeit ins Berliner Zentrum kommen. Die Erfahrung, den Alltag mit einem utopischen Gegenentwurf im Kopf zu bestreiten, ließ mich darüber nachdenken, welche schwierigen Gefühle, wie Trauer, Wut und Enttäuschung, mit utopischem Denken einhergehen und was diese bewirken.

Eine Utopie beschreibt eine Gesellschaft, wie sie schöner und besser wäre, als unsere aktuelle Gesellschaft. Indem wir diese erzählen, setzen wir uns zwangsweise mit dem auseinander, was aktuell in der Gesellschaft fehlt und Leid verursacht. Wir müssen uns das Hässliche und Schmerzhafte anschauen und bewusst machen, damit wir in Abgrenzung dazu, Utopien entwerfen können.

Utopien machen uns bewusst, was nicht ist. Und je nachdem, wie möglich oder unmöglich die utopischen Entwürfe erscheinen, zeigen sie uns auch das, was nicht sein wird; das, von dem wir annehmen, dass es in unserer Lebenszeit nicht mehr realisiert wird.

Ich sehe eine Utopiewerkstatt, also einen Prozess bei dem Utopien entwickelt, diskutiert und geteilt werden, als einen grundsätzlich hoffnungsvollen und handlungsorientierten Prozess. Warum würde jemand Utopien entwerfen, wenn da nicht die Hoffnung wäre, dass Teile davon realisiert werden und die Ideen zu einer positiven Entwicklung der Gesellschaft beitragen? Gleichzeitig kann der Abstand zwischen dem Gewünschten und dem Gegebenen sehr groß sein. Je näher die Utopie an den eigenen tiefsten Wünschen, umso deutlicher könnte einem gewahr werden, dass diese Wünsche eben nicht erfüllt sind und oft auch nicht erfüllt werden. Die Einschätzung, ob die Utopie realisierbar ist, wird dabei stark abhängen von der individuellen Lebenssituation, dem Alter, der persönlichen Gesundheit, dem bisherigen Lebensweg oder der Gesellschaft, in der man lebt.

Utopisches Denken ist meines Erachtens eng verbunden mit Gefühlen, die ich zunächst nicht in dem Zusammenhang erwartet hätte: Wut, Enttäuschung oder Trauer über das, was in der aktuellen Gesellschaft schief läuft, über das, was wir nicht mehr erleben werden oder eben auch darüber, was es an Kraft und Ressourcen kostet, sich für Veränderungen einzusetzen. Einiges davon wird sicherlich durch schöne Gefühle aufgewogen – die Hoffnung auf positive Veränderungen, die Freude an guten Ideen und inspirierenden Gesprächen, die Befriedigung schöpferischer Gedanken und Handlungen. Dennoch scheint es mir wichtig, diesen schwierigen Gefühlen einen Raum zu geben. Wer kennt es nicht, die lähmende Wirkung von Enttäuschung oder die Energieschübe von Wut? Wie könnte es aussehen, schwierigen Gefühlen im Rahmen einer Utopiewerkstatt Raum zu geben? Wie würde sich das auswirken? Welche Möglichkeiten entstehen daraus?

In unserer Straße sind die Stimmen, die sich für die Verkehrsberuhigung eingesetzt haben, still geworden. Wie wäre es, wenn es einen Austausch über Wut, Enttäuschungen oder Trauer gäbe? Vielleicht würde geteilte Wut einen Motivationsschub für einen neuen Anlauf bringen? Oder anerkannte Enttäuschung den Weg frei machen für andere Projekte?

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