Vor ein paar Jahren habe ich einen Workshop mit NachbarInnen geleitet, in dem auch eine utopische Version unserer Straße entwickelt wurde. Aus der schmalen, mit Autos zugeparkten und durch zügigen Autoverkehr gefährlich und lauten Straße, wurde eine verkehrsberuhigte, fast autofreie Straße, mit grünen Parkecken, Sitzinseln für Senioren, Spielecken für Kinder, Mülleimern für Hundebesitzer, Radwegen, Tempo 30, kaum Parkplätzen, Autoverkehr nur in eine Richtung. Eigentlich wohl eher eine zeitgemäße Planungsvision als eine gewagte Utopie. Es führte dennoch dazu, dass ich dieses Bild vor mir sehe, wenn ich mit dem Fahrrad verbotenerweise den Gehweg nutze, um nicht zwischen die Autos zu geraten oder lange warten muss, um heil über die Straße zu kommen. Es frustriert mich und macht mich wütend, dass sich hier nichts in Richtung einer Verkehrsberuhigung getan hat – in Zeiten, wo diese Veränderungen sogar dem politischen Auftrag entsprechen und bei weitem keine gewagten Ideen sind. Es bringt nur wenig Genugtuung, dass sich die zeitgleich skizzierte Autofahrer-Utopie (bzw. Anwohner-Dystopie) auch nicht realisiert hat: eine auf Betonstelzen erhöhte 4-spurige Schnellstraße als Verlängerung des Steglitzer-Autobahn aus den 60er Jahren, damit die vielen Pendler aus den boomenden Vorstädten schnell zur Arbeit ins Berliner Zentrum kommen. Die Erfahrung, den Alltag mit einem utopischen Gegenentwurf im Kopf zu bestreiten, ließ mich darüber nachdenken, welche schwierigen Gefühle, wie Trauer, Wut und Enttäuschung, mit utopischem Denken einhergehen und was diese bewirken.
Eine Utopie beschreibt eine Gesellschaft, wie sie schöner und besser wäre, als unsere aktuelle Gesellschaft. Indem wir diese erzählen, setzen wir uns zwangsweise mit dem auseinander, was aktuell in der Gesellschaft fehlt und Leid verursacht. Wir müssen uns das Hässliche und Schmerzhafte anschauen und bewusst machen, damit wir in Abgrenzung dazu, Utopien entwerfen können.
Utopien machen uns bewusst, was nicht ist. Und je nachdem, wie möglich oder unmöglich die utopischen Entwürfe erscheinen, zeigen sie uns auch das, was nicht sein wird; das, von dem wir annehmen, dass es in unserer Lebenszeit nicht mehr realisiert wird.
Ich sehe eine Utopiewerkstatt, also einen Prozess bei dem Utopien entwickelt, diskutiert und geteilt werden, als einen grundsätzlich hoffnungsvollen und handlungsorientierten Prozess. Warum würde jemand Utopien entwerfen, wenn da nicht die Hoffnung wäre, dass Teile davon realisiert werden und die Ideen zu einer positiven Entwicklung der Gesellschaft beitragen? Gleichzeitig kann der Abstand zwischen dem Gewünschten und dem Gegebenen sehr groß sein. Je näher die Utopie an den eigenen tiefsten Wünschen, umso deutlicher könnte einem gewahr werden, dass diese Wünsche eben nicht erfüllt sind und oft auch nicht erfüllt werden. Die Einschätzung, ob die Utopie realisierbar ist, wird dabei stark abhängen von der individuellen Lebenssituation, dem Alter, der persönlichen Gesundheit, dem bisherigen Lebensweg oder der Gesellschaft, in der man lebt.
Utopisches Denken ist meines Erachtens eng verbunden mit Gefühlen, die ich zunächst nicht in dem Zusammenhang erwartet hätte: Wut, Enttäuschung oder Trauer über das, was in der aktuellen Gesellschaft schief läuft, über das, was wir nicht mehr erleben werden oder eben auch darüber, was es an Kraft und Ressourcen kostet, sich für Veränderungen einzusetzen. Einiges davon wird sicherlich durch schöne Gefühle aufgewogen – die Hoffnung auf positive Veränderungen, die Freude an guten Ideen und inspirierenden Gesprächen, die Befriedigung schöpferischer Gedanken und Handlungen. Dennoch scheint es mir wichtig, diesen schwierigen Gefühlen einen Raum zu geben. Wer kennt es nicht, die lähmende Wirkung von Enttäuschung oder die Energieschübe von Wut? Wie könnte es aussehen, schwierigen Gefühlen im Rahmen einer Utopiewerkstatt Raum zu geben? Wie würde sich das auswirken? Welche Möglichkeiten entstehen daraus?
In unserer Straße sind die Stimmen, die sich für die Verkehrsberuhigung eingesetzt haben, still geworden. Wie wäre es, wenn es einen Austausch über Wut, Enttäuschungen oder Trauer gäbe? Vielleicht würde geteilte Wut einen Motivationsschub für einen neuen Anlauf bringen? Oder anerkannte Enttäuschung den Weg frei machen für andere Projekte?