
„Erkennen und Verändern – das ist unser Ziel. Um etwas zu verändern, müssen wir es erst erkennen, und der Akt des Erkennens ist in sich selbst bereits eine Veränderung – eine erste Veränderung, die uns die Möglichkeit gibt, auch andere Veränderungen zu versuchen. Wir proben einen Akt der Befreiung, um ihn dann ins reale Leben zu extrapolieren: Das Theater der Unterdrückten ist in allen seinen Formen ein Ort, an dem Veränderungen geprobt werden – und diese Probe an sich ist bereits eine Veränderung.“
Boal, 2021, S.306
Diesen Sommer bin ich auf einen Menschen und sein Werk aufmerksam gemacht geworden, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Augusto Boal und das Theater der Unterdrückten. Ich war bei einer Theateraufführung eingeladen, die sich als eine Mischung aus Theater, Erzählung und interaktivem Workshop entpuppte. Dem Schauspieler, Regisseur und Theaterpädagogen Marcelo Miguel (http://theater-instrumental.de/) gelang es, in einem furiosen Durcheinander an Sprachen, Geschichten, Spielen und Übungen das Leben und Werk von Augusto Boal vorzustellen. Ich sah sehr viele Anknüpfungspunkte für partizipative Zukünftegestaltung. Nicht nur, dass Theater eine spannende Form ist, um partizipativ Bilder gewünschter Zukünfte zu entwickeln. Das von Boal entwickelte Forumtheater beginnt mit einer Szene der Unterdrückung, welche den Zuschauern (er sagt Zuschauspielern) aus eigener Erfahrung als Unterdrückte vertraut ist. Anschließend wird dieselbe Szene immer wieder verändert – durch Zuruf oder Rollentausch der Zuschauspieler– bis möglichst viele Wege entwickelt wurden, wie die Unterdrückung aufgelöst und verhindert werden könnte. Es werden Handlungsmodelle für die Zukunft entwickelt. Boals jahrzehntelange Arbeit, in der er größten Wert darauf legte, keine Lösungen von oben herab zu präsentieren, sondern die Betroffenen selbst dazu zu befähigen, ihre eigenen Möglichkeiten auszuloten, auszutesten und zu reflektieren, ist ein Schatz an Erfahrungen.
Allgemeine abstrakte Themen werden auf konkrete Szenen herunter gebrochen. Der gesamte Prozess bleibt immer ein Dialog, alle lehren und lernen. Die konkrete Arbeit in Handlungen und Bildern verhindert das Abschweifen in endlose Grundsatzdiskussionen. Boal hat eine große Fülle an Methoden entwickelt, die auch abseits des Theaters genutzt werden können. Er hat reichlich Erfahrungen gesammelt, wie solche Gruppenprozesse anmoderiert werden sollten, damit ein gemeinschaftlicher kreativer Prozess in die Gänge kommt. Ich sehe in seinem Werk einen Fundus an Erfahrungen und Methoden, welche die Gestaltung partizipativer Prozesse bereichern und verbessern können.
„Wichtig ist dabei nicht, die eine gute Lösung zu finden, sondern eine größtmögliche Zahl an Alternativen zu entdecken.“ Boal, 2021, S.320
„Diese Bilder besitzen zwei wesentliche Eigenschaften: Sie sind Bilder von etwas Realem, und sie sind gleichzeitig in sich selbst real. Sobald die Bilder gestellt worden sind, existieren sie.“ Boal, 2021, S. 367
„Theater der Unterdrückten bewegt sich an der Grenze von Realität und Fiktion – diese Grenze muss überschritten werden. Die Aufführung beginnt in der Fiktion, ihr Ziel ist jedoch, in die Realität, ins Leben integriert zu werden. (…) Lasst uns demokratisch sein und unser Publikum bitten, uns von seinen Wünschen zu erzählen und uns Alternativen zu zeigen. Lasst uns hoffen, dass wir eines nicht zu fernen Tages in der Lage sind, unsere Regierungen und Regierenden zu überzeugen oder zu zwingen, dasselbe zu tun: nämlich ihr Publikum – also uns!- zu fragen, was sie tun sollen, um diese Welt in einen Ort zu verwandeln, an dem wir leben und glücklich sein können – ja, das ist möglich! (…)“ Boal, 2021, S.388